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Buchtipp

Stillgelegt

-  100 verlassene Orte in Deutschland und Europa  -

Stillgelegt

Kemnitz Conrad Täger

„Stillgelegt“

erschienen im Dumont Verlag…

Dieses 224 Seiten umfassende Buch der drei Fotografen Thomas Kemnitz, Robert Conrad und Michael Träger ist ein Fotobuch, das besonders fotografierende Leserinnen und Leser anspricht, die gerne lost places aufsuchen und dort fotografieren, Architektur als Sujet bevorzugen, aber auch geschichtlich interessiert sind.

Ich bekam dieses Buch zum Berufsabschied von meinen Kolleginnen und Kollegen geschenkt. Sie wussten um mein fotografisches Interesse an den verlorenen Orten.

Als Fotograf über ein Buch von Fotografen zu schreiben, ist gar nicht so einfach. Bemüht man sich als Fotograf darum, selbst „gute“ Fotos zu machen, die bestimmten Kriterien formaler, inhaltlicher und künstlerischer Art genügen, bleibt es dennoch ein Wagnis, Fotos anderer Fotografen angemessen zu besprechen und zu würdigen. Die drei Fotografen des Buches verstehen meiner Meinung nach ihr fotografisches Handwerk exzellent, arbeiten handwerklich sauber und überzeugen durch unterschiedlichste Perspektiven und den Einsatz verschiedener Brennweiten, die dem lost place, dem Gebäude sein Gesicht geben und es möglichst objektiv abbilden.

Das vorgestellte Buch mit seinen Fotografien von 100 verlassenen Orten ist ein dokumentarisches Foto-Buch über die verschiedensten lost places in Deutschland und Europa. Es ist in 5 verschiedene Bereiche gegliedert („Produzieren, Leben, Bilden, Transportieren“ und „Schützen“) und jeweils mit Fotografien und Texten zu den einzelnen Orten versehen, wobei die Fotografien im Mittelpunkt stehen. Alle lost places wurden im 20. Jahrhundert erbaut und auch wieder aufgegeben, sind verfallen oder sogar zum Teil zerstört. Die Fotografien zeigen diese Bauten „im Moment ihres Stillstandes, im Augenblick des Verfalls“ (Klappentext) vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte Deutschlands und ganz Europas. Dabei sind auch Fotografien solcher Orte, die sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, wie die Geisterstadt Prypjat nahe dem 1986 havarierten Atomreaktor in Tschenobyl in der Ukraine oder das berühmte Battersea Kohlekraftwerk mit seinen 4 Schornsteinen in London, das das Cover der bekannten Pink Floyd-Platte „Animals“ von 1977 ziert, das Turmrestaurant an der Raststätte „Dreilinden“ an der früheren Interzonenautobahn von der Bundesrepublik nach West-Berlin zur Zeit der deutschen Teilung, die NSA-Abhöreinrichtung auf dem Teufelsberg in Berlin aus der Zeit des Kalten Krieges zwischen den USA, der NATO und dem Ostblock, die Reste der Eisenbahn-Hubbrücke Karnin auf der Insel Usedom, die in der NS-Zeit bedeutsam war u.a. für die Anbindung der NS-Heeresversuchsanstalt Peenemünde an das Festland, aber auch für den Inseltourismus oder die frühere Transrapid-Versuchsanlage in Dörpen, auf der die Magnet-Schwebebahn als Schienenverkehrsmittel der Zukunft getestet wurde, die aber niemals in Deutschland realisiert, sondern nach China verkauft wurde.

Die Bilder legen den Fokus auf den Moment, den Augenblick des Stillstandes. Dieser Stillstand hat meistens eine lange Vorgeschichte und Entwicklung, die vom Erbau über die Nutzung bis zum Stillstand oder die Zerstörung reicht. Insofern trifft der Titel „Stillgelegt“ auf das individuelle Schicksal eines jeden porträtierten Ortes und Gebäudes zu.

Lost places – ein vielseitiger Begriff

Mit lost places verbindet man neben Stillstand, Nicht-Nutzung aber auch Verfall und Zerstörung. Alle diese Aspekte versuchen die drei Fotografen in ihren dokumentarischen Fotografien und den dazu gehörigen Texten deutlich zu machen. Es gelingt ihnen, so finde ich,  sehr gut. Fast alles liest sich wie eine Biografie des Gebäudes / Ortes, der von den Menschen aufgegeben wurde, um dann langsam zu „sterben“. Insofern lassen sich Fotos und Texte auch als eine Art „Nachruf“ auf das Gebäude / den Ort verstehen, dem die Fotografen noch ein letztes Mal ein Gesicht geben wollen für die Nachwelt. Viele der lost places verfallen so, dass sie eine Gefahr darstellen und nicht mehr betreten und fotografiert werden dürfen, letztlich sogar abgerissen werden.

Die Fotos im Buch zeigen Momente im „Leben“ eines jeden lost places auf, zeigen den plötzlichen Stillstand, den Moment des Verlassen-Seins, Menschen haben alles dort aufgegeben, sind nicht mehr präsent, kehren nicht mehr zur Arbeit, zur Bildung, zum Leben dorthin zurück. Die Gebäude und Orte haben ihre eigentliche Funktion und Aufgabe verloren, sind inhaltsleer und leblos geworden.

…dokumentarische Lost Places Fotografie

Für Fotografinnen und Fotografen hat das alles einen besonderen (fotografischen) Reiz. Vielfach werden von den lost places HDR-Fotos, künstlerisch mit Filtern verfremdete Fotos, SW-Fotos und Fotos mit extremen Brennweiten u.a. erstellt. Nicht so in diesem Buch. Die Fotografen Kemnitz, Conrad und Täger legen ihr fotografisches Augenmerk auf die rein dokumentarische Fotografie und das in Farbe. Den dokumentarischen Charakter unterstützen die Texte, die jeweils am Ende eines jeden Kapitels mit der Nummer des Ortes und Seitenverweis auf das jeweilige Foto zu finden sind. In den beiden Innenseiten des Buchumschlages befindet sich zudem eine Europakarte mit den Orten der lost places und den Nummern, die diese Orte im Buch tragen, so dass eine Lokalisierung durch den Leser / Fotografen leicht gemacht wird.

…was einmal war…

Die Autoren betonen im Vorwort ihre Auffassungen und Intentionen von dem Foto-Projekt „Stillgelegt“, diese reichen von konservatorischen, sozialgeschichtlichen, dokumentierenden Aspekten (Conrad) über den „medialen Erhalt des Ortes“ (Kemnitz) bis hin zum (fotografischen) Erforschen und Dokumentieren des „Unentdeckten, Unerforschten und Unbekannten“ (Täger). Allen beteiligten Fotografen ist gemein, dass sie die lost places mit ihren Gebäuden durch ihre Fotos erhalten, der Nachwelt überliefern wollen, aufzeigen wollen, dass diese Orte mit ihren Gebäuden auch Träume von Menschen und Gesellschaften beinhalten, einst eine wichtige Funktion erfüllten, an die es zu erinnern gilt, wenn sie mal nicht mehr existieren sollten. Ihre Fotos kann man im weitesten Sinne als mahnende Abbildungen von etwas Vergessenem, bald  Zerstörtem und ganz Verschwundenem begreifen. Sie sind somit ein Stück Erinnerungskultur an die Aufgabe eines Ortes und Gebäudes auf Grund einer Katastrophe, wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher u.a. Veränderungen.

Darin liegen die Besonderheit und der Wert dieses sehens- und lesenswerten Foto-Buches.

Es ist im Dumont-Verlag veröffentlicht und kostet derzeit 29,99 €.

 

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