Ein Spätsommertag - 24notes
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Ein Spätsommertag

Er war noch etwa eine Gehstunde von der Berghütte entfernt, als die ersten Blitze den bedrohlich dunklen Himmel erhellten. Jo Berger schob seinen Hut in den Nacken und blickte nach oben. Er wusste, dass er die Hütte nicht rechtzeitig erreichen konnte. Er beschleunigte seinen Schritt und stieg entschlossen bergwärts. Berger war gut trainiert. Trotz seines Alter von 65 Jahren mühte ihn der Aufstieg kaum. Wie jedes Jahr im Spätsommer wollte er ein paar Tage in den Bergen zubringen. Er liebte diese Hütte dort oben, die er vor langer Zeit von seinem Großvater Wilhelm geerbt hatte.

Der Wind wurde rasch stärker, und mit ihm kam der Regen. Jo zählte die Sekunden zwischen Blitz und Donner, um die Entfernung des Gewitters zu schätzen. Mittlerweile strömte das Regenwasser in Sturzbächen den Bergpfad hinab und nahm immer mehr Geröll mit sich. Der Sturm fegte durch das Geäst der umstehenden Fichten und brach armdickes Sturmholz heraus. Ein Ast traf Berger mit voller Wucht, gerade, als er an einem steilen, felsigen Wegstück aufsteigen wollte. Er fiel hart talwärts, seine Hände suchten erfolglos Halt, vergeblich versuchte er, seinen Kopf während des wilden Rutsches zu schützen. Das Letzte, was Berger spürte, war ein dumpfer, stechender Schmerz am Hinterkopf. Dann wurde es dunkel um ihn. Und still.

Im Dunkel fühlte er nichts. Langsam und gleichmäßig atmete er süßlich schwere Luft. Von irgendwo her war ein monotones Piepsen zu hören. Er versuchte, die Augen zu öffnen, erahnte das Licht um ihn herum, doch das Dunkel zog ihn mit Macht hinab. Wieder und wieder versuchte Berger mit aller Kraft, sich dem Dunkel zu entziehen. Aber sein Körper folgte ihm nicht.

Plötzlich war er hellwach. Doch war er nicht mehr der Jo Berger, der er war: Er war jung, war Kind und lief vergnügt auf dem Wiesengrund seiner Heimat umher. Unbeschwert blickte er an den sonnigen Himmel eines Spätsommertages. Mit Genuss sog er die frische, nach Apfel duftende Luft in sich auf, die der Wind aus der Streuobstwiese herüber trug. Wie aus dem Nichts erschien sein Großvater Wilhelm, ein Obstbauer mit Leib und Seele, breitschultrig, kräftig und warmherzig. Jo konnte sich nicht erinnern, ihn je ohne seinen blauen Anton gesehen zu haben. Außer sonntags natürlich, in der Kirche.

Ihm stand der Sinn nach Drachensteigen.

»Opa, hilfst du mir?« Ohne die Antwort abzuwarten, rannte Jo los, um die Schnur auszulegen. Er war aufs Höchste gespannt, ob der selbstgebaute Drachen fliegen würde. Opa Wilhelm hatte ihn beim Bau angeleitet. Es war eine alte, bewährte Konstruktion aus schnurumrandeten Kiefernleisten mit bunter Papierbespannung. Wilhelm hatte nach dieser Art schon in seiner Jugend gebaut.

»Josef, du musst gegen den Wind laufen!«

»Das weiß ich doch!«, rief Jo zurück und passte seine Laufrichtung an. Er ärgerte sich ein wenig, weil er nicht eher daran gedacht hatte. Und weil Wilhelm ihn wieder Josef genannt hatte. Keiner tat das außer Opa.

»Drachen steigen lassen ist himmlisch.«

Wilhelm legte seine Stirn in leichte Falten, wie er das immer machte, wenn er nachdachte.

»Es ist wohl so: Ich stehe hier unten, der Drachen steigt hinauf und fliegt für sich allein. Aber irgendwie fliegt ein Teil von uns mit.«

Die beiden schauten mit Freude zu dem Drachen empor und schwiegen. Mit keinem konnte Jo so vertraut schweigen wie mit seinem Großvater. In diesem Moment fühlte er sich gänzlich glücklich, ruhig und zufrieden. Er wünschte sich, der Tag würde nie vergehen. Jo wollte das Glück für immer festhalten. Aber die Sonne am Himmel wanderte unbeeindruckt weiter. Der lange, mit roten und blauen Schleifen besetzte Schweif des Drachens raschelte friedlich im Wind, und als der Wind schließlich nachließ, landete er sanft im Gras.

»Lass uns durch den Obstgarten nach Hause gehen.« Jo wickelte die Schnur auf und folgte seinem Großvater. Wilhelm bückte sich und hob einen Apfel auf.

»Ein Jakob-Fischer, ein herrlicher Apfel«, sagte Wilhelm und reichte ihn Josef. »Iss, der wird dir gut tun.«

Jo biss in den roten, vollreifen Apfel, und als er das reine, makellose Weiß des Fruchtfleisches betrachtete, begann es, vor seinen Augen zu verschwimmen. Es wurde weiter, wuchs beständig, wurde körperlos und nahm langsam sein gesamtes Sichtfeld ein. Immer heller und strahlender wurde das Weiß. Es begann ihn zu umschließen, bis es ihn gänzlich einhüllte. Er fühlte sich plötzlich leicht und schwebend.

Da war er wieder, dieser süßlich-schwere Duft. Berger sah sich auf einem Krankenhausbett liegen, sah sich gleichmäßig atmen, sah die Schläuche und Apparaturen, hörte das monotone Piepsen, hörte seinen Großvater sagen:

»Komm!«

Dann wurde es still.

(Foto: Unsplash.com)

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