Ferdinand von Schirach: "Strafe" - 24notes
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Ferdinand von Schirach: „Strafe“

Ferdinand von Schirach: „Strafe“

Ferdinand von Schirach: „Strafe“, Luchterhand Verlag 1. Auflage 2018

Warum es gute Gründe gibt, dieses Buch zu lesen – und auch die anderen Bücher des Autors

Geschichten rund um das deutsche Strafrecht

Bei Schirach lese ich das, was sonst nicht oder nur selten in der Zeitung steht. Vor allem frei von populistischen Sprüchen. Spektakuläre Kriminalfälle, die Welt der deutschen Strafjustiz, stets die Sache von allen Seiten beleuchtet. Ein realistisches und möglichst vollständiges Bild von allen am Prozess Beteiligten. Mitsamt deren Angehörigen. Die manchmal nachvollziehbaren, manchmal äußerst niedrigen Beweggründe der Straftäter, die mehr oder weniger gravierenden Folgen für die Geschädigten. Und nicht zuletzt der Standpunkt der Staatsanwälte, Richter und Verteidiger. Und auch die Wirkung von Verurteilung oder Freispruch auf die Öffentlichkeit.

In seinen Erzählungen steht der Autor stets auf Seiten der Geschädigten, ohne aber dabei auch den Täter einer kriminellen Handlung außer Acht zu lassen. Oftmals war oder ist so ein Täter selbst ein Opfer, sowohl moralisch und manchmal sogar im strafrechtlichen Sinn. Schirach steht über den Dingen, verurteilt nie und übt sich soweit nur möglich in Objektivität. Auch wenn Scheußlichkeiten im Raum stehen.

Keine Schwarzweissmalerei

Schirach berichtet differenziert. Er argumentiert klar, wenn ein (an sich schuldiger) Angeklagter tatsächlich aus guten Gründen freigesprochen wird, z.B. dann wenn eine Verurteilung im speziellen Fall ein Verstoß gegen das Grundgesetz wäre. Andererseits zeigt er aber auch auf, dass ein Prozess aus anderen Gründen platzen kann, wenn z.B. eine im Grunde ungeeignete Schöffin bei der Verhandlung mit im Spiel ist. In jenem Fall gab es für den Angeklagten Freispruch – mit fatalen Folgen. Dabei scheiterte die Verurteilung hier an lediglich einfachem Verfahrensrecht, also nicht an einem Verstoß gegen die Verfassung.

Weiter schreibt Schirach auch über einen Fall, bei dem ein Schwerkrimineller freigesprochen wurde, weil eine Zeugin zu früh entlassen wurde. Sicher: diese Vorschrift gibt es in unserer Strafprozessordnung nicht ohne Grund. Aber: in diesem Fall war dieser Verfahrensverstoß letztlich Erbsenzählerei. Trotzdem konnte (und musste) die Strafverteidigerin den Angeklagten „heraus boxen“. Auch wenn sie selbst dabei ordentlich Bauchweh bekam, völlig verständlicherweise.

Der Alltag in unserer Strafjustiz: ein Mikrokosmos aus vielen Grautönen. Und nur ganz selten reines schwarz oder weiß.

Keine gewöhnlichen Kurzkrimis

Die Geschichten in „Strafe“ (ebenso in seinen Büchern „Verbrechen“ und „Schuld“) sind keine gewöhnlichen Kurzkrimis. Schirach ist auch kein  Krimiautor im eigentlichen Sinn oder Journalist. Er will vielmehr mit seinen Erzählungen dem Leser die Wirklichkeit im Alltag der Strafjustiz nahebringen. Und auch die Regeln, an die sich unsere Strafrechtspflege zu halten hat – aus gutem Grund. Denn das Strafrecht kann sich schnell zu einem Instrument entwickeln, mit dessen Hilfe man den Rechtsstaat leicht ausheben kann. Deswegen dürfen bestimmte Grundsätze wie „keine Strafe ohne Gesetz“ oder „nicht zweimal in derselben Sache“ nicht angetastet werden. Gerade zum letztgenannten Prinzip, im Juristenlatein „ne bis in idem“ genannt, liefert der Autor im Buch eine interessante Erzählung mit verblüffendem Ende.

Bizarre Fälle aus der Praxis

Wie schon bei den Büchern „Verbrechen“ und „Schuld“ handelt es sich bei „Strafe“ um eine Sammlung von Erzählungen. Praktisch alle wieder harter Tobak. Und man lernt bei der Lektüre dazu. Bestimmte Abartigkeiten oder sog. sexuelle Perversionen sind trotz des Tabus in der Öffentlichkeit am Ende gar nicht so selten wie man annimmt. Und auch Unschuldige, die für andere in den Knast gehen, die gibt es tatsächlich. Sprich: der Schauspieler Günther Kaufmann war kein Einzelfall.

Ebenso gibt es auch eiskalte Mörder, die nie verurteilt werden, weil bei dem was passiert war seltsamerweise niemand tatsächlich an einen Mord denkt – und nur an einen Unfall ohne Fremdverschulden. Und manche Leute machen sich auch verheerende Schuldvorwürfe, weil sie für einen tödlichen Unglücksfall zwar im Juristenlatein die „conditio sine qua non“ sind, aber keinerlei Schuld an der Sache tragen. Fälle die das Leben eben schreibt. Dieses Leben kann grausam sein.

Was in Zeitung und Fernsehen zu kurz kommt

Auch das beste Strafrecht der Welt (und ein solches haben wir hier in Deutschland) kann nicht allen Beteiligten gegenüber gerecht werden. Auch Juristen und ihre Gehilfen, sprich z.B. die Polizei, machen Fehler. Strafrecht ist immer lückenhaft. Ein Verhalten, was nicht ausdrücklich vom Gesetz als Straftat beschrieben wird darf nicht bestraft werden. Wegen ein und derselben Sache darf niemand zweimal belangt werden. Diese und noch einige weitere Grundsätze sind eiserne Regeln, die aufgrund unseres Verfassungsrechts niemand umgehen darf. Auch das Strafprozessrecht stellt Regeln für ein rechtsstaatliches und vor allem faires Verfahren auf. Deshalb müssen diese Regeln eben immer eingehalten werden…und deshalb finden manchmal auch die Strafverteidiger bei einem Revisionsverfahren ein Haar in der Suppe. Und dann kommt es zu Freisprüchen von eigentlich Schuldigen. Trotzdem: dies ist das kleinere Übel, als dass der Rechtsstaat untergraben wird.

Schwachstellen im Recht? Und deswegen „Fehlurteile“

Ja, die gibt es in der Tat. Und auch wenn er das Kind nicht beim Namen nennt: Schirach schweigt sie nicht tot. Gerade die erste Geschichte im neuen Buch: „Die Schöffin“ ist hierfür ein Beispiel. Auch ich bin der Ansicht: grundsätzlich ist das Schöffenwesen eine gute Sache. Aber: es gibt Personen, die für dieses Ehrenamt tatsächlich nicht geschaffen sind und mit der Situation als Laienrichter vor Gericht überfordert sind. Und diese Leute müssen nicht unbedingt charakterschwach oder gar psychisch labil sein.

In solchen Fällen geht es nicht um Verfassungsrecht oder die Wahrung des Rechtsstaats. Sondern um einfaches Recht. Wo dieses zu grob unbilligen Ergebnissen (hier mit fatalen Folgen) führt, da gibt es doch, so finde ich, Handlungsbedarf – und an dieser Stelle ist die Politik gefragt. An dieser Stelle geht es um praktische Notwendigkeiten, nicht um Vorschriften die das Verfassungsrecht tangieren. Also sollten wir ab und zu hinterfragen, ob an bestimmten Stellen Handeln gefragt ist.

Und zuletzt

Ich persönlich finde alle bisherigen Veröffentlichungen von Ferdinand von Schirach sehr lesenswert. Es würde aber hier den Rahmen sprengen, wenn ich hierzu auch noch detailliert Stellung nehmen würde. Die Bücher wurden allesamt Bestseller, ich bin der Ansicht verdienterweise. Und möchte sie allen, die sie noch nicht kennen ans Herz legen.

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